Anders als in den Teilen 1, 2 und 3 meiner Sprachwandeln-Serie geht es hier mehr um das «Wandeln» als um die Sprache an sich. Verrückt war es dennoch.

Als ich Anfang der 1990er-Jahre in Paris arbeitete, hatte ich eine französische Arbeitskollegin, mit der ich mich auf Anhieb super verstand. Wir pflegten unseren Kontakt, und es entstand eine schöne Freundschaft daraus. Nach einigen Jahren verliess sie Paris und ging zurück in ihre Heimat nahe Chalon-sur-Saône im wunderschönen Burgund, wo mein Freund und ich sie besuchten. Natürlich wollten wir die Gelegenheit nützen und möglichst viel von der Gegend sehen. Meine Freundin schlug vor, zu den Loire-Schlössern zu fahren. Das wäre an einem Nachmittag gut machbar – so vermutete sie zumindest. Ganz genau wusste sie es nicht, aber auch ihr Freund meinte, mit dem Auto sollte der Weg in ein bis zwei Stunden zu schaffen sein. Internet gab es damals noch nicht, aber wir vertrauten auf die geografischen Kenntnisse unserer französischen Freunde. Am Samstagnachmittag sollte unser Ausflug stattfinden. Wir schliefen lange, frühstückten ausgiebig und gegen Mittag machten wir uns mit meiner Freundin auf den Weg – die Strecke war ja angeblich keine grosse Sache. Gut gelaunt nahmen wir die Autobahn in Richtung unseres grossen Ziels: Chambord, das grösste und prächtigste aller Loire-Schlösser. Das Wetter war mittelmässig, ein wenig Sonnenschein, zwischendurch ein bisschen Regen, aber für eine Schlossbesichtigung brauchte man ja nicht unbedingt schönes Wetter. Davon liessen wir uns die gute Laune ganz sicher nicht verderben. Bald würden wir ja dort sein.

Knappe fünf Stunden später: Die Stimmung liess sich nur noch mit Verzweiflung beschreiben. Keiner hatte geahnt, dass wir über 400 Kilometer zu bewältigen hatten. Wir fuhren und fuhren und fuhren. Mehr als einmal kam uns der Gedanke umzukehren, aber jedes Mal verwarfen wir ihn wieder, da wir uns immer knapp vor dem Ziel wähnten.

Für ein dramatisches Foto reichte die Zeit noch.

Nach fünf Stunden französischer Autobahn und französischen Bundesstrassen stand es dann endlich vor uns: Chambord! Was für ein gewaltiger Anblick! Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Das beeindruckendste Bauwerk, das ich bis dahin gesehen hatte. Weiss leuchteten die Türme gegen den mit schweren, dunklen Regenwolken verhangenen Himmel. Es war einfach nur atemberaubend. Wir parkten und eilten zur Kassa. Es war später Nachmittag. Ziemlich später Nachmittag. Also fast schon Abend. Stürmisch verlangten wir drei Eintrittskarten. Die Antwort: Es gibt keine Eintrittskarten mehr, sie würden in einer halben Stunde schliessen. Den Schock kann ich gar nicht beschreiben. Wir beschworen die Kassiererin, uns doch bitte, bitte die Karten zu verkaufen, auch wenn es sich in ihren Augen überhaupt nicht lohnte. Für uns würde es sich sehr wohl lohnen. Es wäre der lohnendste Schlossbesuch, den überhaupt jemals jemand haben würde. Wir würden auch gerne den vollen Eintrittspreis bezahlen, kein Problem. Wir verloren wertvolle fünf Minuten mit Diskussionen, aber wir erreichten das Ziel: Wir bekamen die Karten. 1 : 0 für uns! Und dem Schloss würden wir auch noch zeigen, was eine richtige Besichtigung ist. Im Sauseschritt eilten wir die berühmte doppelläufige Wendeltreppe hinauf, rasten durch die vielen, vielen Räume. All unsere Sinne waren auf Turbobetrieb geschaltet. Ich erinnere mich an Bilder, Waffen, Holztäfelungen, Teppiche, Jagdtrophäen. Und pünktlich nach 25 Minuten hatten wir es geschafft. Wir hatten Chambord besichtigt!

Als wir wieder draussen waren, hatten wir Zeit, das Schloss und die Anlagen von aussen zu bewundern. Und das war mindestens ebenso beeindruckend. Zudem machte uns der Himmel ein Geschenk. Wie bereits bei unserer Ankunft hingen schwere Regenwolken am Himmel, die auf atemberaubende Weise mit dem weissen Schloss kontrastierten. Dazu gab es einen wunderschönen Regenbogen. Das konnte nur Gutes bedeuten.

Wir machten uns auf den Heimweg. Der wieder genauso lang wie vorher und dazu wettertechnisch diesmal eine echte Herausforderung war. Von leichtem Tröpfeln, über Starkregen und Hagel war alles dabei. Hin und wieder sogar ein paar Sonnenstrahlen. Aber wir hielten durch. Und als wir gegen Mitternacht zu Hause ankamen, konnten wir von einem aussergewöhnlichen zwölfstündigen Ausflug berichten, der von einer 25-minütigen Chambord-Besichtigung gekrönt war.

Ich habe mir überlegt, dass es schön wäre, irgendwann wieder einmal nach Chambord zurückzukehren und es nochmals zu besichtigen. Vielleicht habe ich ja damals etwas übersehen?

Corina Ramsauer