Wie wohl den meisten Schweizern war mir, bevor ich bei Diction und damit mit einigen deutschen Gspänli zu arbeiten begann, nicht bewusst, wie gross die Unterschiede zwischen Schweizer Hochdeutsch und deutschem Standarddeutsch sind – oder dass es sowas wie ein Schweizer Hochdeutsch überhaupt gibt.

Gibts nicht (mehr) im Schweizer Hochdeutsch.

Die einzigen Unterschiede, die ich kannte, waren einige wenige Helvetismen (grillieren! parkieren!) sowie das berühmt-berüchtigte Eszett (ß). Dieses wird in der Schweiz schon seit geraumer Zeit nicht mehr geschrieben: Als letzte Tageszeitung strich die «NZZ» im November 1974 das Eszett aus ihren Publikationen. Die Unterscheidung, ob etwas in Massen oder in Maßen genossen wird, ist seither in der Schweiz zumindest rein sprachlich nicht mehr möglich. Dafür erkennt man jetzt schnell, ob ein Text aus Deutschland oder aus der Schweiz kommt. Auch praktisch.

Die unzähligen Rückfragen meiner deutschen Teamkollegen («Ist das wieder sowas Schweizerisches oder kann das weg?») haben mich unterdessen eines Besseren belehrt: Schweizer Hochdeutsch und deutsches Standarddeutsch sind zwei zuweilen erstaunlich unterschiedliche Varianten der gleichen Sprache. Dabei muss angemerkt werden, dass das Schweizer Hochdeutsch genauso korrekt ist wie sein grosser Bruder aus dem Norden und nicht einfach eine seltsame regionale Erscheinung. Und natürlich muss zwischen Schweizer Dialekten und Schweizer Hochdeutsch unterschieden werden – Erstere werden in der schriftlichen Kommunikation in der Regel nur im Privatgebrauch verwendet und sind auch so gut wie nicht reglementiert.

Wodurch zeichnet sich denn nun dieses Schweizer Hochdeutsch aus?

Ein Schweizer Cake.

Das Vokabular ist in der Schweiz also zuweilen etwas eigen – wie so einiges anderes auch. In vielen Bereichen wie zum Beispiel dem Militär überrascht das allerdings auch nicht sonderlich. Natürlich hat so etwas Landesspezifisches wie die Armee einen eigenen Wortschatz, der sich von seinem deutschen Pendant unterscheidet. Und da die Schweiz über eine Milizarmee verfügt, haben sich einige dieser Eigenheiten auch im allgemeinen Sprachgebrauch breitgemacht. So zum Beispiel der viel zitierte Ausgang, bei dem sich die deutschen Kollegen gerne wundern, warum man sich in der Schweiz trifft, nur um dann in Haus- und anderen Türen herumzulungern. Was sich die Alemannen wohl unter dem dazugehörigen adretten Ausgänger vorstellen? In einem Übersetzerforum fand ich eine angeregte Diskussion darüber, ob dies nun ein Partymensch sei oder jemand, der den Anspruch auf Hartz IV verliert – oder dann doch ein Straftäter auf Hafturlaub? Die Lösungen sind nicht nur alle falsch, sie würden im Satz «Wir zogen am Abend den Ausgänger an.» auch durchwegs befremdlich wirken. Beim Ausgänger handelt es sich nämlich schlicht und einfach um die sogenannte «Ausgangsbekleidung 95 (Tenü A)», zu der laut Reglement 51.009 d der Schweizer Armee übrigens auch «Ausgangsschuhe» und ein «Ausgangsmantel» gehören.

Der nichtmilitärische Alltag hat aber auch jenseits des Ausgangs viele Helvetismen zu bieten: Wenn die Rekruten nach getaner Landesverteidigung in den nächsten Spunten pilgern, um sich Fleischvögel mit Hörnli zu gönnen (oder heutzutage vielleicht eher eine Krautstiel-Kabis-Wähe), wirds für unsere nördlichen Nachbarn nicht verständlicher. Und erst bei der Hausarbeit: Während der Schweizer Schwingbesen und Wallholz in die Abwaschmaschine packt, den Kompost zur Grünabfuhr bringt, das Fixleintuch aus dem Tumbler holt und den Spannteppich in der Stube reinigt, klingt das in deutschen Haushalten ganz anders: Schneebesen und Nudelholz in den Geschirrspüler, Kompost zum Wertstoffhof, das Spannbetttuch aus dem Wäschetrockner und Teppichbodenreinigung im Wohnzimmer.

Gehen wir auf die Party? Oder an? Bei? Zu?

Die unterschiedlichen Auffassungen davon, was «Hochdeutsch» genau bedeutet, gehen aber weit über das Vokabular hinaus – auch die Grammatik weist in der Schweiz einige Besonderheiten auf. Ganz speziell sorgen immer wieder die Präpositionen für Empörung. Die häufigsten Kandidaten sind die Schweizer Allerwelts-Präpositionen «an» und «auf». Während unser Schweizer Rekrut, nennen wir ihn mal Sepp, am Wochenende AN ein Konzert, AN eine Messe, AN den (!!) Fussballmatch und AN eine Tagung geht, gestaltet sein deutscher Kollege Ralf seine Freizeit – zumindest präpositionsbezogen – komplett anders: Er geht ZUM Konzert, ZUR Messe, ZUM Match (das Match!!) und ZU einer Tagung.

Und während Sepp AUF seinem Beruf arbeitet (und daher immer noch AUF der Verwaltung AUF Stadtgebiet), ist sein deutscher Freund nicht mehr IN seinem Beruf tätig: Er verrichtet sein Tagewerk neu IN der Redaktion einer Lokalzeitung, aber immer noch IM Stadtgebiet. Übrigens kommt Sepp auch nie AUF Besuch zu Ralf, immer muss Ralf ZU Besuch kommen. Sepp wohnt nämlich AN bester Lage, wie er immer sagt. Und nicht wie Ralf IN besonders verkehrsreicher, aber trotzdem schlecht erschlossener Lage.

Satz(un)strukturen

Ähnlich unerschlossen scheint die Lage für Nicht-Schweizer sicher auch oft bei bestimmten helvetischen Satzstrukturen. So kann Schweizer Hochdeutsch Nebensätze bilden, in denen das Verb am Anfang steht und keine Konjunktion auftritt: Schön, gehöre ich jetzt auch zu diesem tollen Team. Die Struktur kommt zwar aus der Mundart, gilt aber auch standardsprachlich als korrekt. Ebenso kann das Wort «bereits» im Schweizer Standarddeutschen am Satzanfang vor dem Verb stehen: Bereits ziehen dunkle Wolken am Horizont auf. In Deutschland wäre dies höchstens mit einem Bezugswort («Bereits jetzt ziehen …») in Ordnung. Das stört uns Schweizer natürlich nicht weiter.

Sie sehen, die Liste der sprachlichen Unterschiede ist lang – und es gibt noch unzählige, die hier nicht genannt sind: zum Beispiel unterschiedliche grammatische Geschlechter und Pluralformen oder die Schweizer Tendenz zu fremdsprachigen Wörtern wie Bouillon, Lavabo, Depot, Cake oder Penalty (statt Brühe, Spülbecken, Pfand, Kuchen oder Elfmeter). Und gerade solche Eigenheiten machen die Arbeit mit der Sprache so spannend: Es gibt nicht nur ein Deutsch und auch nicht nur ein korrektes Deutsch. Das sagt übrigens auch der Duden, der sehr viele helvetische Besonderheiten aufgenommen hat und den wir täglich für unsere Arbeit benutzen. Falls die Sache für Sie aber eher beunruhigend klingt (oder auf gut Schweizerisch: tönt) als aufregend: Das Deutschteam mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Schweiz, Deutschland und Österreich hilft auch bei Deutsch-Deutsch-Übersetzungen, länderspezifischen Fragen oder Dialekt-Lektoraten gerne weiter!

Annina Spinelli, Team Deutsch

Fotoquellen: Eszett, Cake