Der Himmel ist grau, es ist Montag. Eine Stadt steht still. Der Duft nach gebrannten Mandeln und heisser Bratwurst hat sich in kalte Luft aufgelöst.

Der Himmel ist grau, es ist Mittwoch. Eine Stadt bewegt sich in Zeitlupe. Sie wirkt ungelenk, orientierungslos, erschlagen – als hätte sie eine schwere Grippe durchlebt.

Der Himmel ist grau, es ist Samstag. Langsam erwacht München aus dem Delirium. Der Verkehr lebt auf, vor dem Bäcker duftet es nach frischen Brezen, und es besteht Hoffnung, dass doch noch einmal Normalität einkehrt.

Von Mitte September bis Anfang Oktober hat er wieder getobt, der wilde Wahnsinn auf der Münchner Theresienwiese, die schon lange keine mehr ist. Nach 182 Jahren Bierb(r)auchtum wächst dort nun wirklich kein Grashalm mehr. Für die Münchner ist das das 42 Hektar grosse Beton-Kies-Areal deshalb aber nicht minder ein Heiligtum – vermutlich ist es sogar das Heiligtum mit dem welthöchsten Alkoholgehalt.

Das grösste Volksfest der Welt riecht nach einem wilden Mix aus Bier, Brathähnchen, Lebkuchenherzen und Menschen aus aller Welt, die in surrealen Sprachen angeregte Unterhaltungen führen und sich hemmungslos über viel Bier und schlechte Musik freuen.

Von kulturellem Austausch im klassischen Sinne kann nicht die Rede sein. Es ist mehr – viel mehr. Es ist ein osmotischer Traum – ein Verschmelzen der Kulturen, Sprachen und Individuen aus aller Welt zu konturlosen, menschlichen Agglomeraten mit tierischen Zügen, die im sinnbetäubenden Biernebel willenlos vor sich hin diffundieren. Ineinander verschlungen schunkeln sie auf den Bierbänken, als gäbe es kein Ich, kein Du und kein Morgen mehr. Jeder ist auch irgendwie der andere, der eine mehr als der andere und der andere mehr als er selbst.

Es ist immer wieder eine Show, wie sich eine ganze Stadt ins Jenseits schiesst und alle mitmachen, die – nach Münchner Definition – aus dem Jenseits kommen. Es ist lustig, albern, komisch – es ist reizvoll und abstossend zugleich. Und wenn man genau hinsieht, ist es ein Trauerspiel.

Was bleibt übrig von der rauschenden Wiesnzeit? Nicht viel. Dröhnende Kopfschmerzen. Ein Loch im Portemonnaie. Und ein hartes, rohes, Gefühl von Leere. Es ist ein unangenehmer Moment, in dem man aus dem Dämmerzustand fällt und auf dem kalten Boden der Realität aufschlägt. Wenn man sich von sieben Millionen anderen Bierseelen lösen und wieder in die vier Wände des eigenen Selbst zurückkehren muss.

Im Gegensatz zu den Touristen kennt der Münchner diesen Moment seit 1810. Er ist darauf vorbereitet. Dennoch braucht auch er eine Weile, bis er wieder zu sich selbst findet. Irgendwann aber ist es so weit. Ende Oktober hat sich der Münchner wieder gefangen. Er kratzt sich den Senf der letzten Bratwurst aus dem Bart, streicht seine Hirschlederhosen glatt, steckt sich den Gamsbart wieder an den Hut und schickt seine Frau um ein Weissbier. Und während sie das überschäumende Glas vor ihm auf den Tisch knallt, sagt er gedankenverloren zu ihr: «Geleck, Resl, da hammas fei wieder gescheid gracha lassn.» Dass er damit einen Begriff benutzt hat, den selbst ein professioneller Übersetzer auf Hochdeutsch kaum wiedergeben könnte, ist ihm nicht bewusst. Die Resl hats schon verstanden. Er nimmt einen tiefen Zug aus dem Glas und lässt sich die Welt hintenrum vorbeigehen.

Deutschteam